Die Leiserhäuser, Peter Zumthor, 2009

Annalisa hatte schon immer davon geträumt, in einem Holzhaus zu wohnen. Immer, wenn sie mir davon erzählte, erhielt ich den Eindruck eines intimen Hauses in den Bergen, in dem sie alleine wohnte. Wir als Paar oder Familie mit Kindern kamen in diesen Beschreibungen, die ich in den vielen Jahren des Zusammenlebens in verschiedenen Versionen hörte, nicht vor. Es war klar, dass sie ein sehr persönliches Gefühl der Geborgenheit beschrieb. Sie dachte an Räume aus Holz, in verschiedenen Farben ausgemalt. Sprach sie vom Geruch des Arvenholzes, dem Prasseln des Feuers im Stubenofen, von der besonderen Wärme des Holzes als Umgebung für den menschlichen Körper, wie sie das kürzlich tat? Ich weiss es nicht mehr genau, aber geblieben ist mir der Eindruck, dass das Haus, das sie beschrieb, immer diese besondere Ausstrahlung hatte, die nur Häuser aufweisen, die aus massivem Holz gebaut sind und nicht aus Brettern, Leisten, Balken, Sperrhölzern oder Furnieren.

Und jetzt ist das Haus gebaut. Hell steht es da im kleinen Weiler von Leis mit seinen altersschwarzen Holzbauten auf 1500 Metern über Meer. Daneben steht ein zweiter Neubau, den wir gleichzeitig errichtet haben, ein kleineres Schwesterhaus, zwei Häuser der gleichen Familie, die Leiserhäuser.
Den ganzen Sommer über, so will mir scheinen, hörte man letztes Jahr in Leis die Hammerschläge der Zimmermänner, gelegentlich im Konzert mit dem Geräusch der Motoren der landwirtschaftlichen Fahrzeuge, dem Gebimmel der Glocken der weiter oben im Hang weidenden Ziegen oder den hellen Schlägen der kleinen Glocken im Dachreiter der nahen kalkweissen Jakobskapelle. Mit gespreizten Beinen und einem konzentrierten Ausdruck im Gesicht, der sich, wenn man ihren Blick suchte, in ein Lächeln verwandeln konnte, standen die jungen Männer auf den Balkenwänden und schlugen mit ihren Vorschlaghämmern auf die Balken, meistens zu zweit mit rhythmischen Doppelschlägen. Das weit ausholende Schwingen der Hämmer trieb die aufgelegten Balken hinunter, bis der Doppelkamm des unteren Balkens satt in die Doppelnut des oberen griff, der Balken dicht auflag und sich zur Wand fügte. Gehobelte Tannenbalken, elf Zentimeter breit, zwanzig Zentimeter hoch und bis zu sechs Meter und sechzig Zentimeter lang wurden Lage für Lage über drei Stockwerke zu Wänden aufgeschichtet, die Eckverbindungen mit der ebenso uralten wie eleganten Schwalbenschwanzverbindung ausgeführt, oder, wenn es wegen der Raumeinteilung im Innern des Hauses nicht möglich war, die eine Wand gegenüber der anderen vorstehen zu lassen, wie das die Schwalbenschwanzverbindung braucht, mit Fingerzinken, der klassischen Eckverbindung.

Wandbalken, Deckenbalken, Dachbalken, Fensterfutter aus Holz, Verbindungsmittel aus Metall, Stahldübel, lange Spezialschrauben, Zugbänder, Schlitzbleche, Spannkabel - alle diese Teile kamen fertig bearbeitet auf die Baustelle; millimetergenau, die Balken zu grossen Transportpaketen gebunden und mit Plastikfolien eingehüllt, damit die von den Ingenieuren für richtig gehaltene Luftfeuchtigkeit des ofengetrockneten Holzes von vierzehn Prozent für die Innenwände und siebzehn Prozent für die Fassadenbalken bis zum “Aufrichten“ erhalten blieb. Jedes Loch, jede Nut, jeder Kamm, Falz, Schwalbenschwanz oder Absatz war schon am richtigen Balken am richtigen Ort. Ungefähr 5000 Balken für die beiden Häuser, kaum einer gleich wie der andere. Bauen hiess zusammensetzen.

Bevor sie auf die Baustelle kamen, wurden die Balken in der Werkhalle des Holzbaubetriebes von einem computergesteuerten Automaten in ihre Form gebracht. Durch ein Schauglas im Gehäuse kann man der flüssig abgehackten Arbeit des Automaten an den Holzbalken zusehen. Von einer anderen Maschine zuvor bereits auf allen vier Seiten gehobelt und mit Doppelnut und Doppelkamm versehen, laufen die Balken, von kräftigen Anpressrollen genau in der Spur gehalten, von links nach rechts durch das etwa mannsgrosse Metallgehäuse des Automaten. Sägeblätter, Bohrer und Fräsköpfe heben und senken sich, fahren vor und zurück. Die Werkzeuge sind scharf. Die Präzision ist gross.

“Abbinden“ heisst der alte Fachausdruck der Zimmermänner für die Arbeit des Zurüstens des Holzes in der Werkstatt vor dem Abtransport auf die Baustelle, wo die zuvor abgebundenen Balken dann zum Haus “aufgerichtet“ werden. Die digitalen Handlungsanweisungen für den computergesteuerten Abbundautomaten hatte der Techniker des Zimmereibetriebes geschrieben. Er benutzte dabei die digitalen Daten der Werkpläne, die unsere Architektinnen am Schluss der Entwurfsarbeit mit dem Zeichnungsprogramm auf unseren Computern hergestellt hatten.

Unsere Leiser Holzhäuser haben grosse Fenster. Sie reichen von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke. Sie rahmen die Landschaft, die in grossen Bildern in die Häuser hinein wirkt.
Die traditionelle Blockhauskonstruktion, deren Grundelement aus vier Wänden besteht, die zusammen eine schachtelförmige konstruktive Einheit bilden, kennt keine grossen Fenster. Denn, würde man die Wände der Raumschachtel zu stark durchlöchern, verlören sie ihre Festigkeit.

Das Grundrissbild der Leiserhäuser zeigt eine Anzahl traditionell konstruierter, kleiner Raumschachteln von unterschiedlicher Grösse und Form, in denen Nebenräume, Treppen, Vorratskammern, Badezimmer, Toiletten oder Bäder untergebracht sind. Diese kleinen Raumeinheiten stehen frei im Grundriss und sind in der Waagrechten durch die Geschossdecken miteinander verbunden. Decken und Nebenräume bilden so die Tragstruktur der Häuser. Die Zwischenräume zwischen den Nebenräumen sind verglast. So entstehen die grossen Panoramafenster. Die Seitenwände von zwei gegenüberliegenden Nebenraumeinheiten stossen zur Aussicht vor und bilden zusammen mit den dazwischen gespannten Boden- und Deckenbalken breite Wohnerker.

So haben wir im Verlaufe der Arbeit an den Leiserhäusern dem traditionellen Konstruktionsprinzip der hölzernen Schachtel einiges abgerungen. Zunächst wurde die Holzschachtel, die im alpinen Bauernhaus unserer Gegend Hauptraum, das heisst, Stube und Kammer ist, zum Nebenraum verkleinert. Dann haben wir diese Nebenräume wie raumhaltige Pfeiler im Grundriss freigestellt, im Querschnitt übereinander geschichtet und von Stockwerk zu Stockwerk mit Brettschichtholzdecken untereinander verbunden. Freiliegende Wandenden wurden, wo nötig, mit Stahlnadeln oder Spannkabeln zusammen gehalten.

Auf diese Weise kommt viel Licht und Weite in die Häuser, und es wurde möglich, grosszügige Raumfolgen zu entwerfen, die sich öffnen und schliessen. Man bewegt sich durch die Häuser von Aussicht zu Aussicht. Die Präsenz des Holzes ist überall spürbar, intim und nahe am Körper, ein mildes, seidig glänzendes Strahlen der Hölzer im Licht.

Die Häuser trocknen jetzt langsam aus, und das Holz schwindet. Die Stockwerke werden in den nächsten Jahren noch etwas an Höhe verlieren, zwei bis drei Zentimeter ungefähr. Doch unsere Fenster, Türen und Treppen, die Wasser- und Abwasserrohre und Einbauschränke, alle starr dastehend, wie es ihnen entspricht, sind darauf vorbereitet, dass das Holz, das sie hält, sich weiter bewegt.

“Die Leiserhäuser” publiziert in: Peter Zumthor, Architektur Denken. Dritte, erweiterte Auflage, Basel: Birkhäuser, 2010. Geschrieben für: Diego Giovanoli, Facevano Case. Malans/Chur: Pro Grigioni Italiano, 2009.

Foto: Miro Kuzmanovic